Oft fallen Langzeitarbeitslose aus dem sozialen Netz – und damit noch tiefer in Isolation und Depression. Das Integrationsprojekt Jobtimal nimmt sich dieser Menschen an: Dank einer einzigartigen Zusammenarbeit mit Arbeitgebern, Sozialamt und Gewerkschaften haben Betroffene wieder eine Lebensperspektive.
Lilly Saroun: «Die Arbeit ist die beste Therapie»
Es war furchtbar», sagt Lilly Saroun (49). «Drei Jahre lang war ich arbeitslos. Ich bin ein lebensfroher Mensch, aber irgendwann wusste ich nicht mehr, wie mein Leben weitergehen soll.» Dennoch hat sie nie aufgegeben. «Die Arbeit ist mein Herz und meine Seele», sagt sie.
Sie erzählt, wie sie vor knapp zwei Jahren im alteingesessenen Berner Café Eichenberger endlich wieder eine Stelle gefunden hat – nachdem sie aus dem Arbeitsalltag katapultiert worden und auf dem Sozialamt gelandet war. Ein Bandscheibenvorfall und Abnützungserscheinungen im Rücken. «Wer stellt schon jemanden ein, der nicht viel tragen darf und oft unter Schmerzen leidet?» Sie habe versucht, Jobs zu finden – chancenlos. Beschwerden bedeuten ein zu grosses Risiko für Arbeitgeber.
Mehr Selbstsicherheit, mehr Stabilität
Der Sozialdienst meldete die Bernerin bei Jobtimal an. Der Verein sucht für Sozialhilfebezüger mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung eine passende Stelle im regulären Arbeitsmarkt . «Wer schon lange nicht mehr im Arbeitsprozess ist, hat kaum noch Chancen, wieder eine Anstellung im ersten Arbeitsmarkt zu finden», sagt Bernhard Emch (44), Unternehmer und Präsident des Vereins Jobtimal.
Da die Betroffenen vermindert einsatzfähig sind, wird mit dem Arbeitgeber ein Teillohn ausgehandelt, der der möglichen Leistungsfähigkeit entspricht. Als Basis dient ein orts- und branchenübliches Grundsalär. «Kann jemand nur 50 Prozent Leistung erbringen, erhält er einen entsprechenden Lohn», sagt Emch. Nur so sei
es möglich, Betriebe im freien Markt zur Kooperation zu bewegen. «Viele Unternehmer sind skeptisch, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben oder sich Ausfälle gleich nach der Einarbeitung nicht leisten können.» Beträgt der Lohn weniger als das Existenzminimum, trägt das Sozialamt die Differenz. In den meisten Fällen verbessert sich die Leistung während der Anstellung. Die Arbeitnehmer gewinnen Mut und Vertrauen in ihre Fähigkeiten, werden selbstsicherer und auch psychisch stabiler.
Lilly Saroun war zu Beginn 80 Prozent leistungsfähig – und nach zwei Monaten wieder voll einsatzfähig. «Die Arbeit ist die beste Therapie gegen meine Schmerzen. Endlich habe ich wieder ein Leben: Ich werde gebraucht.» In der Anfangszeit war sie bei Jobtimal angestellt; der Verein hat sie an Eichenberger «ausgeliehen». Das ist das übliche Vorgehen: Arbeitgeber haben so genug Zeit, um festzustellen, ob es mit der Anstellung klappt. Ausserdem verringert sich dadurch der administrative Aufwand.
Heute ist Lilly Saroun direkt angestellt und braucht keine Begleitung von Jobtimal mehr. Zwar kann sie wegen ihres Rückens nur halbtags arbeiten, aber das Tearoom bleibt ein idealer Arbeitsort: Sie muss keine schweren Teller oder Tabletts voller Bier tragen, sondern vor allem Kaffee, Tee und Patisserie. Auch ihr Chef, Geschäftsführer Daniel Eichenberger (41), freut sich: «Sie ist ein Glücksfall für uns», sagt «Man muss sie eher bremsen – und schauen, dass sie nicht zu viel arbeitet.»
Patric Pfenninger: «Ich erhalte Bestätigung und Dankbarkeit»
Der Respekt war gross, als Patric Pfenninger (42) sich in der Kanzlei Bratschi zum Vorstellungsgespräch meldete. «Ich dachte: eine Anwaltskanzlei – was für eine Herausforderung!» Das war vor rund drei Jahren. Ulrich Keusen (50), Anwalt und Teilhaber der Kanzlei Bratschi in Bern, erinnert sich: «Von Bernhard Emch habe ich von Jobtimal erfahren. Ich war neugierig, wie das Projekt funktioniert, und sagte, man solle sich mal bei mir melden.»
Jobtimal-Coach Franz Reber nahm Kontakt mit dem Anwalt auf. Der Zeitpunkt passte: In der Kanzlei, die zu den grössten Anwaltsbüros der Hauptstadt zählt, wurde gerade die Stelle des Allrounders frei. Ein Teilzeitjob ohne grosse körperliche Belastung, der aber verantwortungsvoll ausgeführt werden muss. Und Rebers Klient Patric Pfenninger schien der richtige Mann dafür zu sein.
Reintegration nach einem Burn-out
Vor rund zehn Jahren hatte Patric Pfenninger ein Burn-out. Lange war er psychisch und physisch angeschlagen, verzweifelt gar: «Ich glaubte nicht mehr an mich und schrieb mich ab.» Dennoch wollte er wieder arbeiten. Er nahm an verschiedenen Integrationsprogrammen teil, führte Hunde aus, arbeitete als Hauswart, leistete Chauffeurdienste und kochte freiwillig in Blaukreuz-Lagern. Das Ziel war aber, wieder im ersten Arbeitsmarkt integriert zu sein.
Heute hat sich der gelernte Koch gut in der Kanzlei eingelebt und erledigt gewissenhaft seinen Job. Im weissen Hemd serviert er gekonnt Kaffee. Jeden Morgen holt er die Post, um sie zu sortieren und in den vier Stockwerken zu verteilen; er kümmert sich um die Kaffeemaschinen, erledigt Materialbestellungen und macht Botengänge. «Ich erhalte Bestätigung, schöne Rückmeldungen und viel Dankbarkeit», sagt er.
atric Pfenninger hat mittlerweile einen Vertrag erhalten. In den ersten eineinhalb Jahren wurde er von Coach Franz Reber betreut, denn Jobtimal gewährleistet während der ersten 24 Anstellungsmonate die Begleitung des Arbeitnehmers. In dieser Phase wurden Standortgespräche mit dem Arbeitgeber durchgeführt, alle zwei bis drei Monate sass man zusammen. «Wir besprachen, wie es mit der Arbeit läuft und welche Aufgaben zumutbar sind», sagt Ulrich Keusen.
Warum hat der Wirtschaftsanwalt den Aufwand auf sich genommen? «Weil ich es richtig finde und glaube, dass immer etwas zurückkommt», sagt Ulrich Keusen. Es ist für ihn selbstverständlich, dass man sich auch für Dinge engagiert, die ausserhalb des Leistungssystems ihren Wert haben. «Es braucht einen Wandel in unseren Köpfen», meint er.
Remzi Rexhepi: «Ein anderer Mensch»
Stolz zeigt Remzi Rexhepi (52) seinen Arbeitsbereich im Untergeschoss der Firma Keller Treppenbau in Schönbühl BE. In deckenhohen Gestellen lagern Kistchen mit allen Arten von Schrauben, Muttern und Beschlägen, fein säuberlich sortiert. Daneben lagern grössere Maschinen und Geräte. Remzi Rexhepi ist zuständig für die Ordnung im Lager, die Herausgabe von Montagematerial, und in der Werkstatt führt er kleinere Schlosserarbeiten aus.
Der gebürtige Kosovo-Albaner, der sich vor über zwei Jahrzehnten in der Schweiz niedergelassen hat und mit seiner Familie in Schönbühl wohnt, leidet an den Spätfolgen eines Unfalls: Als junger Mann fiel er beim Dachdecken von der Leiter. Seine Hüften sind so beschädigt, dass er nicht mehr lange stehen oder sitzen, nichts Schweres heben und die linke Hand nur sehr begrenzt gebrauchen kann. Trotzdem geht er täglich zur Arbeit. Um sieben Uhr morgens fängt er an.
Remzi Rexhepi kann 50 Prozent Leistung erbringen. Sein Lohn ist tief; er erhält nicht viel mehr, als wenn er von der Sozialhilfe leben würde. Doch viel wichtiger sei es, endlich wieder ein Leben zu haben. Habe man ihn früher gefragt, was er denn so mache, sei er meistens wortlos davongelaufen. Heute sei das anders.
KMU sind am kooperativsten
Auch mit der Gesundheit und der psychischen Verfassung ging es wieder bergauf. Zwei Monate nach Stellenantritt staunte der Arzt: «Herr Rexhepi, Sie sind ja ein anderer Mensch!» Produktionsleiter Markus Siegenthaler (52) hat die internen Abläufe so organisiert, dass Remzi Rexhepi jederzeit genug Arbeit hat. «Wenn die einfacheren Arbeiten von einem weniger erfahrenen Mitarbeiter erledigt werden, haben die spezialisierten Fachleute mehr Kapazitäten für komplexere Aufgaben. Das ergibt Sinn, denn in unserer Branche leiden wir unter Fachkräftemangel.» Es funktioniere auch gut, weil Siegenthalers Team mitmache.
«Meist muss die passende Stelle erst noch geschaffen werden», sagt Franz Reber (47), der Teamleiter bei Jobtimal. Er hat schon unzählige Unternehmen kontaktiert, mit CEOs und Geschäftsführern gesprochen, über passende Stellen diskutiert. Oft sind es KMU, also Unternehmen mit maximal 250 Beschäftigten, die sich bereit erklären, am Projekt teilzunehmen. «In diesen Betrieben sind die Entscheidungswege viel direkter als bei Grossfirmen.» Und manchmal sei es in solchen Firmen auch einfacher, die Abläufe neu zu definieren.
Gut zehn Prozent der Angestellten bei Keller Treppenbau haben eine Leistungsbeeinträchtigung. Für Markus Siegenthaler ist klar: «Die Integration hat eine grosse volkswirtschaftliche Bedeutung. Einerseits wird ein Beitrag zur Reduktion der allgemeinen Sozialkosten geleistet, andererseits finden Betroffene zurück in die Gesellschaft.» Die Integration scheint sich also auszuzahlen. Hat Jobtimal wirklich keinen Haken? Nein, aber ein grundsätzliches Problem: mehr Arbeitgeber zu finden, die das Projekt unterstützen.
«Man gewinnt Respekt»