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Der Bund «Mit 50  Jahren aus der Sozialhilfe zurück in den Arbeitsmarkt»

By 23. Juni 2016Nachrichten

Die Arbeitsvermittlung  Jobtimal der Stadt Bern setzt auf das Teillohnmodell: So sind auch Stellensuchende mit einer Leistungseinschränkung für Arbeitgeber attraktiv.

Nach langer Arbeitslosigkeit hat Urs Jufer (rechts) eine Stelle im Geschäft Vom Fass von Dirk Mewes gefunden. Bild: Valérie Chételat

2012 verlor Urs Jufer wegen der Spätfolgen einer schweren Lungenentzündung seine Stelle als Servicemonteur. Damals war er 47-jährig und hatte gerade eine neue Stelle angetreten. Sein Pech war es, dass die gesundheitlichen Probleme in der Probezeit auftraten und das Unternehmen keinen angeschlagenen Mitarbeiter fest anstellen wollte.

Als Jufer die Krankheit auskuriert hatte, meldete er sich beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) an, doch bald ereilte ihn der nächste Schicksalsschlag. Die Diagnose lautete: Gallenblasenkrebs. Jufer überstand die Behandlung gut. Nach sechs Monaten war er so weit genesen, dass er sich wieder auf Arbeitssuche begeben konnte. Doch obwohl er unzählige Bewerbungen schrieb, fand er keine Stelle. Vom RAV fühlte er sich in seiner Situation zu wenig unterstützt. «Dort muss man letztlich alleine eine Stelle suchen», sagt Jufer. Er wurde aus der Arbeitslosenversicherung ausgesteuert und musste zur Sozialhilfe.

Lohn nach Leistungsfähigkeit

Doch Jufer wollte unbedingt wieder arbeiten. Die Sozialhilfe vermittelte ihn ans Kompetenzzentrum Arbeit (KA) der Stadt Bern, wo er zunächst ein Jahr in der Velostation arbeitete, einem internen Betrieb des KA. Jufer wollte allerdings nicht von der Sozialhilfe abhängig bleiben und wurde an Jobtimal verwiesen, eine Stellenvermittlung für Langzeitarbeitslose des Sozialamts.

Anders als viele Sozialfirmen und Integrationsprogramme sucht Jobtimal Stellen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Es funktioniert nach dem Teillohnmodell: Der Arbeitgeber zahlt einen reduzierten Lohn, der der verminderten Leistungsfähigkeit angepasst ist. Die Sozialhilfe ergänzt das Einkommen, falls das Existenzminium nicht erreicht wird.

Bereits nach drei Monaten klappte es bei Jufer. Im letzten Sommer erhielt er eine feste Anstellung beim Geschäft Vom Fass, das Speiseöle, Essige, Liköre und Spirituosen verkauft. Der heute 51-Jährige ist zuständig für die Lagerbewirtschaftung und das «Mise en place» im Laden, das Auffüllen der Regale. Die Stelle ist für Jufer ideal. Die Tätigkeit erlaubt ihm selbstständiges Arbeiten und ist abwechslungsreich. Dennoch fordert ihm die Arbeit einiges ab.

Das Warenlager befindet sich auf der dem Laden gegenüberliegenden Seite der Gerechtigkeitsgasse in einem tiefen Altstadtkeller. 50- bis 60-mal an einem Arbeitstag steigt er mit vollen Flaschen, leeren Gläsern und anderem Lagermaterial die steilen Stufen hinauf und hinab.

Arbeitgeber nimmt Rücksicht

Jufer hat immer wieder Phasen, in denen er kürzertreten muss. Geschäftsinhaber Dirk Mewes ermöglicht ihm, die Arbeitszeiten seiner gesundheitlichen Verfassung anzupassen. Einzig im Monat Dezember, in dem das Geschäft mit dem Geschenkverkauf einen Viertel seines Jahresumsatzes macht, muss Jufer sein Pensum auf 100 Prozent erhöhen. Für eine absehbare Zeit könne er dies verkraften, sagt er. Urs Jufer hat zurzeit eine Leistungsfähigkeit von 80 Prozent. Das heisst, der Lohn für seine 60-Prozent-Stelle ist um ein Fünftel reduziert.

Franz Reber, der Jobcoach von Urs Jufer, steht in regelmässigem Kontakt mit ihm und überprüft periodisch, ob die vertraglich festgelegten Rahmenbedingungen noch stimmen, etwa die Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers.

Mewes, seit 2014 Inhaber des Vom Fass, sieht sich als Kleinunternehmer in der Verantwortung, «der Gesellschaft etwas zurückzugeben». Deshalb habe er für die Lagerbewirtschaftung jemanden wie Urs Jufer gesucht. Auf Jobtimal wurde er von den städtischen Behörden aufmerksam gemacht. Mit Jufer habe er ein ganz normales Bewerbungsgespräch geführt, sagt Mewes. Vor seiner Anstellung hat Jufer eine Woche geschnuppert. Da er nicht nur im Lager arbeitet, sondern auch im Laden, wollte Mewes wissen, ob sich der künftige Mitarbeiter für den Kundenkontakt eignet.

In der Regel schliesst der Arbeitgeber mit Jobtimal einen Vertrag ab, der spätestens nach zwei Jahren durch ein direktes Arbeitsverhältnis zwischen der Firma und dem vermittelten Arbeitnehmer abgelöst werden muss. Mewes war von seinem neuen Mitarbeiter von Beginn weg so überzeugt, dass er mit Jufer direkt einen Arbeitsvertrag abschloss. Dieser enthält eine Ergänzung, in der die speziellen Bedingungen festgehalten sind.

40 Sozialhilfebezüger fanden Job

Felix Wolffers, Leiter des städtischen Sozialamts, sieht Jobtimal als Vorzeigeprojekt. Getragen wird es gemeinsam von Arbeitgebern, Gewerkschaften und der Stadt Bern. Jobtimal vermittelte bisher 40 Sozialhilfeempfänger in den Arbeitsmarkt. Die Beteiligung der Gewerkschaften ist für Wolffers wichtig, weil diese zunächst befürchteten, dass die Arbeitgeber das Angebot zum Lohndumping nutzen würden.

Diese Bedenken liessen sich aber entkräften, weil alle von Jobtimal vermittelten Arbeitnehmer eine reduzierte Leistungsfähigkeit aufweisen. Der Arbeitgeber muss zwar nicht den marktüblichen Lohn zahlen, nimmt dafür aber in Kauf, dass der Arbeitnehmer nicht voll belastbar ist. Auch wenn die Firmen ein soziales Engagement zeigten, rechne sich das Angebot für sie, sagt Reber.

(Der Bund, 24.03.2016: Link zum Artikel)