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Berner Zeitung: «Gesucht: Jobs für die Abgehängten»

By 2. Mai 2019Nachrichten

Am 19. Mai stimmt der Kanton Bern darüber ab, ob der Grundbedarf der Sozialhilfebezüger gekürzt wird. Das soll sie animieren,in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Eine zentrale Frage ist: Gibt es in der Berner Wirtschaft die dafür nötigen Stellen überhaupt?

Mehrmals im Tag durchquert Safet Crnovrsanin (53) mit seinem Handwagen die Montagehalle der Aufzugsfirma Emch in Bern-Bümpliz. Obwohl ein schwerer Arbeitsunfall die Berufslaufbahn des gebürtigen Bosniers 2009 brutal stoppte, rollt er nun Bauteile und Werkzeug zurück ins Lager.

Operationen und Rehas warfen ihn zurück. «Ich wollte so schnell wie möglich wieder arbeiten», erzählt er. Schwere Gewichte heben und lange sitzen kann er seit seinem Unfall nicht mehr. Aber er kann sich mit einem Handwagen bewegen. Crnovrsanin ist heute wieder eine richtige Arbeitskraft. Stolz präsentiert er auf der Firmenkleidung seinen konsonantenreichen Namen.

Eine Erfolgsgeschichte

Wie Safet Crnovrsanin zurück in die Arbeitswelt fand, das ist eine Erfolgsgeschichte. Als er arbeitsunfähig war, geriet seine vierköpfige Familie in die Abbhängigkeit der Sozialhilfe. Aber der Wille des Schlossers, der seit 1989 in der Schweiz lebt, blieb ungebrochen.

2013 fand der Berner Arbeitsvermittlungs-Verein Jobtimal für ihn eine Teillohnanstellung als Lager- und Logistikmitarbeiter bei Emch. Das funktioniert so, dass das Unternehmen einen Lohnanteil im Umfang der Leistungsfähigkeit des Angestellten bezahlt, den Rest übernimmt weiterhin die Sozialhilfe.

Als Crnosvrsanin bei Emch begann, lag seine Leistungsfähigkeit bei 60 Prozent. Mittlerweile hat er sie auf 80 Prozent gesteigert. 80 Prozent beträgt nun auch sein Anstellungsgrad. «Ich brauche keine Sozialhilfe mehr», sagt er mit einem scheuen Lächeln. Sein Lohn übersteigt nun die Sozialhilfe, die vorher seine ganze Familie bezog.

Umstrittene Rechnung

Bei der Abstimmung vom 19. Mai über die Revision des Sozialhilfegesetzes geht es auch um die Hoffnung auf Erfolgsgeschichten wie die von Safet Crnovrsanin. Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg (SVP) und die bürgerliche Mehrheit im Grossen Rat wollen den Grundbedarf bei der Sozialhilfe um 8 bis 30 Prozent senken. Gleichzeitig werden Anreize erhöht, um mehr Sozialhilfeempfänger in den Arbeitsmarkt zurückzuführen.

Dass diese Rechnung aufgeht, bezweifeln die linken Gegner, die gegen die Revision einen Volksvorschlag eingebracht haben. Sie warnen, die Gesetzesrevision sei ein Sparvorhaben, das die Sozialhilfeempfänger tiefer in die Armut treibe. Das Problem sei nicht der fehlende Druck, sondern nicht zuletzt ein Mangel an Jobs.

Von den rund 30000 Sozialhilfeempfängern im arbeitsfähigen Alter zwischen 18 und 64 Jahren seien rund 10000 auf Stellensuche, rechnet Felix Wolffers vor. Er ist Leiter des Sozialamts der Stadt Bern, Vizepräsident des Vereins Jobtimal und bald abtretender Ko-Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos). Für ihn ist klar: «Dass so viele Sozialhilfeempfänger in den Arbeitsmarkt integriert werden können, halte ich für ausgeschlossen.»

Christoph Schaltegger, Ökonomieprofessor an der Universität Luzern, findet hingegen, der Kanton Bern sei auf dem richtigen Weg. Der relativ hohe Grundbedarf der Sozialhilfe halte die Betroffenen vom Arbeitsmarkt fern und schaffe in der Wirtschaft keinen Anreiz, Niedriglohnjobs zu schaffen, erklärte er letzte Woche im «Bund». Eine Senkung des Grundbedarfs sowie gezielte Integrationsanreize würden Sozialhilfebezüger motivieren, auf Arbeit statt Abhängigkeit zu setzen.

Kann man mit der Revision des Sozialhilfegesetzes wirklich mehr Sozialhilfeempfänger in den Arbeitsmarkt zurückführen? Das ist eine zentrale Frage am 19. Mai. Richtig beantworten kann sie niemand, schon deshalb, weil weder die Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) noch die Arbeitgeberverbände beziffern können, wie viele niederschwellige Jobs die Berner Wirtschaft heute oder in Zukunft anbieten kann.

«Eine Herkulesarbeit»

Klar ist: Nötig wären Hunderte von Erfolgsgeschichten wie die von Safet Crnovrsanin. Und es braucht Unternehmer wie Bernhard Emch, die sie möglich machen. Der Chef des Aufzugsunternehmens ist ein Vorzeigepatron mit sozialer Ader. «Unser Unternehmen ist ein Familienbetrieb, der auch seine Angestellten als eine Art Familie sieht», erklärt Emch. Er engagiert sich mit seinem Unternehmen jedes Jahr für die Arbeitsintegration von Sozialhilfeempfängern. Für jeden suche man eine individuelle Integrationslösung.

«Das funktioniert nur, wenn man den Angestellten offen kommuniziert, dass ein Kollege nicht voll leistungsfähig ist, mehr Pausen braucht, aber auch weniger verdient», sagt Emch. Die Mitarbeiter seien dann aber stolz, wenn sie den handicapierten Kollegen unterstützen könnten.

Emchs Firma hat auf dem Arbeitsmarkt ein soziales Image. «Das führt aber auch dazu, dass wir viele Anfragen nach niederschwelligen Jobs bekommen und andere Unternehmen auf uns verweisen», erläutert Emch. Der engagierte Unternehmer präsidiert den 2012 gegründeten Arbeitsvermittlungsverein Jobtimal.

Am Anfang seien die Widerstände gross gewesen, erzählt er. Bei den Firmen spürte er eine Hemmschwelle, weil sie fürchteten, bei einem Scheitern den angestellten Sozialhilfeempfänger nicht mehr loszuwerden. Und mit den Gewerkschaften habe man zäh verhandelt, bis sie es zuliessen, mit Teillöhnen die Mindestlöhne zu unterschreiten.

Sozialhilfeempfänger sind meist seit Jahren von der Arbeitswelt abgehängt, viele von ihnen sind aus gesundheitlichen Gründen in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Für sie Jobs zu finden, bleibt eine «Herkulesarbeit», sagt Emch. Der Verein Jobtimal gelte zwar mittlerweile als Erfolgs- und Vorzeigeprojekt, freut sich Vizepräsident Felix Wolffers, trotz breiter Abstützung in Politik und Wirtschaft und professioneller Strukturen habe man im letzten Jahr aber nicht mehr als 27 Personen erfolgreich vermittelt.

Firmen suchen Fachkräfte

Auch Christoph Erb engagiert sich als Beirat bei Jobtimal. Der Direktor des Gewerbeverbands Berner KMU weist aber darauf hin, dass gewisse Sozialhilfeempfänger aus gesundheitlichen Gründen nicht aus ihrem Teillohnstatus herausfinden. Erb macht aus seiner Skepsis keinen Hehl: «Ich kann nicht vorbehaltlos bestätigen, dass die Wirtschaft bereit und in der Lage ist, eine grössere Zahl von Sozialhilfeempfängern aufzunehmen.»

Überhaupt seien heute flexible, einsatzfreudige und teamfähige Fachkräfte gesucht. Die Automatisierung und Roboterisierung schreite gerade im Bereich der Hilfsjobs für Unqualifizierte voran. Kurz: Ausgerechnet diejenigen Jobs, die für Sozialhilfebezüger in Frage kommen, werden immer weniger.

Sein KMU-Verband votiere einstimmig für die von der Grossratsmehrheit vorgeschlagene Senkung der Sozialhilfe, betont Erb. Der Slogan «Arbeit soll sich lohnen» leuchte gerade auf dem Land vielen KMU ein. Das bedeute aber nicht, dass die Berner KMU «an vorderster Front aktiv» seien. «Die Integration in die Arbeitswelt kann nicht von den Unternehmen lanciert und finanziert werden, das ist eine Aufgabe des Staats, die gezielte Fördermassnahmen erfordert», sagt Erb.

«Es gibt ein Potenzial»

«Ich gebe Christoph Erb mit seiner Sorge um Fachkräfte zu 80 Prozent Recht», sagt Bernhard Emch. In vielen Firmen gebe es niederschwellige Arbeit, wie etwa den Gebäudeunterhalt und Reparaturen, deren Auslagerung oder Automatisierung sich nicht immer lohne. Stelle man niedrig qualifizierte Leute ein, könne man Fachkräfte aus den Hilfsarbeiten freispielen.

Emch ist überzeugt: «Es gibt ein Potenzial für niederschwellige Jobs.» Ein Beleg dafür sei, dass in der Schweiz Arbeitskräfte aus dem Ausland Hilfsarbeiten zu Dumpinglöhnen erledigten. Solche Jobs könnte man auch Sozialhilfeempfängern anbieten.

Auch Emch befürwortet die Senkung der Sozialhilfe – «mit etwas Zurückhaltung», wie er sagt. Er hofft, dass der finanzielle Druck die Arbeitsintegration antreibt. «Es kann funktionieren. Und wenn wir es nicht wagen, erfahren wir nicht, ob es klappt», sagt er.

Die Arbeitsintegration erfordere aber viel Zeit und eine Reduktion der Regulierungsdichte im Arbeitsmarkt. Emch räumt ein, dass am 19. Mai «eine schwierige Abstimmung» anstehe. «Sollte mehr Armut der Preis einer Senkung des Grundbedarfs sein, dann müssten wir das umgehend korrigieren», findet er.

Grosser Andrang

Für ein Gelingen des Experiments könnte ein Befund des Bundesamts für Statistik sprechen: Im Kanton Bern gibt es besonders viele Arbeitsplätze im niederschwelligen Bereich. In der Gastronomie, in der Landwirtschaft, im Baugewerbe, in der Reinigung und der Pflege. «Genau in diesem Tieflohnbereich liegt aber die Arbeitslosigkeit schon heute real bei 11 Prozent, es ist deshalb gerade für Langzeitarbeitslose schwierig, wieder eine Anstellung zu finden», sagt Skos-Ko-Präsident Felix Wolffers.

Franz Reber weiss aus Erfahrung, dass der Andrang und die Konkurrenz auf niederschwellige Jobs besonders gross ist. Er ist im Kompetenzzentrum Arbeit der Stadt Bern Geschäftsführer des Vereins Jobtimal. Selbst Sozialhilfeempfänger mit einem kaufmännischen Abschluss seien schwer zu vermitteln, weil durch die Rationalisierung in der Administration die Stellen rarer würden, sagt er.

«Von den 86’000 Unternehmen im Kanton sind bei der Arbeitsintegration viele engagiert, aber es ist unklar, wie viele», sagt Reber. Seine Vermittlungsarbeit wäre leichter, wenn er eine Übersicht über verfügbare Jobs hätte. Auch ohne Abstimmung vom 19. Mai ist eine digitale Stellenplattform dringend nötig für eine erfolgreiche Arbeitsintegration.

Sie gehört auch zu den Forderungen der Arbeitsgruppe, deren Vertreter aus Wirtschaft und Verbänden bis im letzten Juli unter der Ägide der GEF diskutierten. Noch ist es laut GEF-Sprecher Gundekar Giebel nicht so weit. «Eine digitale Vermittlungsplattform wird mit hoher Priorität vorangetrieben und soll 2020 umgesetzt werden», versichert er.

Jobs wichtiger als Anreize

Firmen und Jobvermittlungsprofis sind unsicher betreffend Erfolgsaussichten der Arbeitsintegration. In einem aber sind sich Jobcoach Reber wie auch Unternehmer Emch einig: Höhere Zuschüsse für Integrationsbemühungen sind nicht matchentscheidend. «Bei der Vermittlung erlebe ich, dass alle Leute unbedingt arbeiten wollen, nur eine verschwindend kleine Minderheit will das System der Sozialhilfe ausnützen», sagt Reber. Es braucht also nicht mehr Anreize, sondern mehr Jobs.

Berner Zeitung (Stefan von Bergen), 2. Mai 2019: Link zum Artikel